Wir sind ganz oben im Antwerpener MAS (Museum am Strom). Was für eine Aussicht über Hafenlandschaft und Altstadt! Und jetzt noch diese Aussicht: auf das Lunch hier oben im kühl-modernen Edelrestaurant »t ’Zilte«. Gebutterte Jakobsmuscheln mit Tupfern aus Kartoffelselleriesahne und winzige Steinpilz-Hostien werden gereicht, dazu elf verschiedene Sorten knusprigsten Brotes. Chefkoch Viki Geunes hat zwei Michelin-Sterne. Er kann über „ausgewogene Gesamtkompositionen“ philosophieren, über „Techniken in Balance“ – und, als ich ihn darauf anspreche, über Fritten.
Natürlich, sagt er, serviere er sie bisweilen auch und beginnt am Tisch ein kleines Referat. In einer „eigenen ausgewogenen Fettmischung“ aus pflanzlichem und tierischem Öl (Details natürlich Geheimsache) müssten die Kartoffelstangen gebrutzelt werden: „Ohne Rinderfett geht es nicht, man braucht den leicht animalischen Geschmack.“ Er verwende Bintje-Kartoffeln, selbstverständlich handgeschnitten, ohne normierende Maschine.
Und welche Dicke ist ideal, frage ich. »Ganz dünn für feine Knusprigkeit, um eine Komposition abzurunden. Zu einem Stück Fleisch müssen sie zehn Millimeter dick und innen saftig sein.“ Bei 130 Grad vorbraten, dann bei 175 ausbacken. Wasser und heißes Fett sind chemisch schwer verfeindet. Deshalb kühle er seine Fritten nach dem Vorbraten auf zwei Grad ab und tupfe vor dem Endbraten alle Feuchtigkeit weg. „Je kälter du sie in den zweiten Durchgang schickst, desto besser.“
Frittenkompositionen im Sternerestaurant – in Deutschland ist das höchst ungewöhnlich, Fritten gelten als prolliges No-Go. Fritteusen, sagen die Spitzenköche, störten nur in den engen Gourmetküchen. Außerdem überlagert Fettgeruch alles. Und überhaupt: Pommes! Dieser plumpe Sattmacher, das „kulinarische Nullum“, wie das Zeit-Magazin einmal schrieb. In Belgien backen auch Gourmetköche ihre hauseigenen Pommes Frites, überall. Das Karmeliet in Brügge (aus Altersgründen 2016 geschlossen), über viele Jahre mit drei Michelin-Sternen dekoriert, hatte sogar drei Fritteusen.
Sehen wir uns weiter in Flandern um, kaum sonst wo auf der Welt gibt es eine höhere Dichte an Sternerestaurants. Im „Graanmarkt 13“ in Antwerpen freut sich der junge Chef Seppe Nobels, als ich ihn auf das Thema anspreche. Klar habe er bisweilen Fritten im Angebot. Kann man als belgischer Spitzenkoch überleben ohne Fritten? Könne man, sagt Nobels, „ wenn man ein italienisches Nudelrestaurant aufmacht.“
In Belgien wurden Fritten mutmaßlich erfunden, in Brügge steht das einzige einschlägige Museum der Welt (frietmuseum.be). Moules/Friet gilt als Nationalgericht. „Fritten singen“, sagt man in Belgien, wenn sie glücklich schmurgelnd im Fett umherschwimmen. Die perfekte Herstellung ist fast schon Kunst: Renoult Reniere, Chef des ehemaligen Restaurants „Zeno“ in Brügge, erklärte mir: „Wenn du Pommes Frites à la minute machen willst, braucht das gewissenhafte Vorbereitung. Bintje sind okay, aber nur nach Saison. Wenn es draußen zu feucht war, sind andere Sorten geeigneter. Fritten zu machen, sieht leicht aus, ist aber sehr kompliziert.“
Auch Sterneköche gehen gern mal in eine ganz normale Bude. Seppe Nobels schwärmt vom „Number 1“ in Antwerpens Zentrum: „Handmade Junk Food, wunderbar.“ Vicki Geunes bekennt: „Am besten sind Fritten auf der Kirmes. Die Köche tun nichts anderes, wissen seit Generationen, wie es geht, und haben wegen der großen Mengen meist frisches Fett.“
Auch Lionel Rigolet, mit zwei Michelin-Sternen ausgezeichneter Chef des „Comme chez Soi“ (Wie zu Hause) in Brüssel, liebt die Herbstkirmes: „Da kommt immer so ein mobiler Wagen.“ Im Angebot: Ja, sagt er, die besten Fritten der Hauptstadt. „Da freue ich mich jedes Jahr drauf.“ In seinem zauberhaften Jugendstil-Restaurant (erbaut von Victor Horta) hat Rigolet „die Fritteuse immer startklar“ – für Sonderwünsche, als gelegentliche Beilage oder wenn seine Gourmetgäste Kinder mitbringen. Essen, so Rigolet, beinhalte „immer die ganze Bandbreite. Die große Küche ist ein Genuss, zum kleinen Vergnügen gehört eine gute Fritte.“
In Gent landen wir in einem alten Fabrikpavillon bei Olly Ceulenaere im Restaurant „Volta“. Es mundet der »Königliche Polderhase« – so fein und zart, dass ihn König Philippe auf den ersten Biss in die königliche Familie adoptieren müsste. Wow! Ob wir, bitte ich ihn, zum Nachtisch an einer anständigen Portion Sterne-Fritten naschen könnten? Ceulenaere windet sich ein wenig, während seine Mitarbeiter gerade mit rasend schneller Hand die Edelstahlflächen der Küche reinigen. „Ich würde es ja sofort machen“, sagt er, „aber ausgerechnet heute … wissen Sie …“
Um es kurz zu machen: Freitags geht Olly Ceulenaere mit der Belegschaft zur Geisterstunde immer an eine Imbissbude am Stadtrand. „Da gibt es die besten Fritten von Gent. Eine große Portion, köstliche Saucen, ein Bier, heerlijk.“ Und er lässt mich zum Abschied noch wissen: „Gute Fritten sind geschmacklich nahe am Paradies.“
Von Jan-Kai Vermeulen