Wer in De Haan mit der Straßenbahn ankommt, der wird gleich vom Flair der Belle Epoque begrüßt. Der flämische Küstenort ist von der Architektur dieses Zeitalters geprägt und verströmt damit einen ganz besonderen Charme. Der Bahnhof der Küstenstraßenbahn in De Haan stammt aus dem Jahr 1902. Gut erhalten und schön restauriert empfängt das Gebäude die Reisenden, die mit der Straßenbahn ankommen, auf die sie umgestiegen sind, nachdem sie entweder mit dem Zug in Blankenberge oder in Ostende angekommen sind.
Mit der Küstenstraßenbahn lässt es sich heute schnell und unkompliziert von einem Ort zum anderen an der 68 Kilometer langen flämischen Nordseeküste fahren. Schon 1885 wurde eine Dampfstraßenbahn an der Küste angelegt, zunächst von Middelkerke nach Ostende. 1886 folgte ergänzend die Linie von Ostende über De Haan nach Blankenberge. So wie einige Jahrzehnte zuvor die Anbindung durch eine Eisenbahnstrecke brachte auch der Bau der Straßenbahnlinie zu dieser Zeit einen enormen Entwicklungsschub für den aufkommenden Tourismus an der flämischen Küste.
Stefan Zweig und Albert Einstein weilten in De Haan
Ich bin am Nachmittag mit der Straßenbahn in De Haan angekommen und laufe von dort aus zu meinem Hotel. Das Grand Hotel Belle Vue ist nur wenige Meter vom Bahnhof entfernt und ebenfalls ein prächtiges Bauwerk aus der Belle Epoque. Der Schriftsteller Stefan Zweig hat schon in diesem Hotel gewohnt und der Physiker Albert Einstein kam öfters dorthin und trank auf der Terrasse eine Tasse Tee. Das erzählt mir Guide Brigitte Hochs am nächsten Tag während einer Führung durch den Ort. Wir laufen gemeinsam zum Haus „Savoyarde“ an der Shakespearelaan, in dem Einstein im Jahr 1933 für sechs Monate als Gast wohnte. Die Erinnerung an diese Zeit ist sehr präsent geblieben in De Haan. Brigitte, die dort aufgewachsen ist, hat vor einiger Zeit noch ältere Bekannte von Begegnungen mit dem berühmten Physiker erzählen hören – wie man beispielsweise Musikabende besuchte, auf denen Einstein auf seiner Geige spielte. Außerdem kehrte der Physiker damals auch in das gehobene Restaurant „Coeur Volant“ ein, wo er den Maler James Ensor traf, der in Ostende lebte. Das Gebäude dieses Restaurants ist noch erhalten, wenn auch durch Umbau stark verändert. Eine Infotafel steht davor und zeigt ein Foto, auf dem das Treffen von Einstein, Ensor und anderen Herren zu sehen ist.
Ich laufe gemeinsam mit Brigitte Hochs durch das historische Villenviertel „Concession“ und sie erzählt mir viel über die schönen, in der Dünenlandschaft gelegenen Gebäude. Sie macht mich auf die typischen Elemente der Villen aufmerksam: Erker, Türmchen, Balkone, Terrassen, häufig rot gedeckte Dächer, die sich stellenweise weit nach unten ziehen. Das Bauen in diesem Stil war seinerzeit vorgeschrieben für dieses Viertel und dabei waren nur wenige Etagen erlaubt. Die Grundstücke, auf denen die Villen stehen, weisen oftmals recht wellige Böden auf. Die Landschaft der Dünen wurde in den Gärten weitgehend so belassen. Eine akkurate Einebnung wäre bei dem sandigen Boden ohnehin nicht von Dauer gewesen. Und so wirkt das Viertel um so idyllischer und naturverbundener.
Die strenge Begrenzung auf nur wenige Stockwerke galt in De Haan auch noch in den 1970er Jahren und darüber hinaus. Das machte den Ort uninteressant für die Investoren und Baufirmen, die in dieser Zeit viele Neubauprojekte umsetzen wollten. So ist es in einer Broschüre über das architektonische Erbe von De Haan zu lesen, die von der Gemeindeverwaltung herausgegeben wurde. Auf diese Weise blieb De Haan von der unsanften Modernisierungswelle jener Zeit weitgehend verschont. Die Hochhaus-Manie, die in anderen Küstenorten in Flandern einsetzte, hatte dort keine Chance. Was für ein Glück für De Haan, denn so blieb ein großer Teil der historisch wertvollen und malerischen Architektur der Belle Epoque erhalten. Kaum zu glauben ist heute, dass dem Bahnhof der Straßenbahn noch 1977 der Abriss drohte. Doch die Gemeinde De Haan kaufte das Gebäude für einen symbolischen Franc und rettete ihn damit. Heute steht der Bahnhof unter Denkmalschutz und gilt gemeinsam mit den vielen historischen Villen als ein besonderes Schmuckstück der flämischen Küste.
Auch Blankenberge hat Belle Epoque zu bieten
Weniger bekannt ist, dass auch das nahe gelegene Blankenberge einige historische Schätze zu bieten hat. Das würde man zunächst nicht vermuten. Denn an der Promenade und auch in den dahinterliegenden Straßen reihen sich zahlreiche hochgeschossene Apartmenthäuser aus jüngeren Zeiten aneinander. Doch es gibt auch ein kleines Gebiet im Zentrum zu entdecken, – in der Nähe vom Casino, rund um die Sint-Rochuskerk – in dem einige Häuser aus der Zeit der Belle Epoque erhalten sind.
Ich treffe mich mit Guide Margot Muir im Belle Epoque Centrum, einem kleinen, interessanten Museum, das zu diesem Thema in Blankenberge entstanden ist. Es ist in einem Häuserblock aus dieser Zeit untergebracht, und schon auf dem Weg dorthin kann ich einige schöne Fassaden bewundern. Das Museum vermittelt ein Bild dieser Epoche in Blankenberge und insgesamt an der flämischen Küste. Es zeigt, wie der Badetourismus dort im 19. Jahrhundert aufkam, als dort noch viele Fischer in armen Verhältnissen lebten und nun die reichen Leute an die Küste kamen, um die gesunde Meerluft zu genießen und zu baden, was damals eher bedeutete, ein wenig im seichten Meerwasser zu waten. Auch Schriftsteller und Wissenschaftler fanden sich ein, wie zum Beispiel Charles Darwin, Fjodor Dostojewski, Friedrich Nietzsche und Sigmund Freud, auch darüber informiert das Museum. Historische Fotos und Werbeplakate, typische Kleider der Zeit, Möbel, Vasen, Geschirr und vieles mehr ist zu sehen. Ein Raum im Erdgeschoss konnte komplett originalgetreu eingerichtet werden. Darin lässt sich die Atmosphäre von einst nachspüren.
Im Anschluss an den Museumsbesuch zeigt mir Margot noch einige historische Häuser in den Nachbarstraßen. Die Villa Olga an der Descampsstraat ist besonders beeindruckend. Die Fassade ist komplett mit Kacheln bedeckt, auf denen stellenweise geometrische Muster und zum überwiegenden Teil kunstvoll verschlungene Blumenranken dargestellt sind. An der Rogierlaan ist außerdem auf einer Seite noch ein ganzer Straßenzug von einst zu sehen. Die Häuser der gegenüberliegenden Seite hingegen sind verschwunden, sie mussten seinerzeit Neubauten weichen. Margot erinnert sich noch gut, wie schön und stimmig die Straße einst aussah und was mit dem Abriss alles verloren ging. Sie schüttelt immer wieder den Kopf, während sie davon spricht.
Ein anderes Bauwerk aus der Zeit ist aber erhalten geblieben in Blankenberge und darüber ist Margot besonders froh. Das ist der sogenannte Paravang (nach französisch Paravent) am Jachthafen. Es handelt sich um einen schmucken, langgestreckten Windschutz mit durchgehender Sitzbank, 1908 errichtet im neogotischen Stil. Der Paravang zog sich am damaligen Fischerhafen entlang. Dort konnten die vornehmen Urlauber sitzen und den einfachen Fischern bei ihrer Arbeit an den Booten und den Netzen zuschauen. Noch heute dient der Paravang vielen Passanten als Sitzgelegenheit für die spontane Rast oder als beliebter Treffpunkt. „Viele Mädchen aus Blankenberge haben dort ihren ersten Kuss bekommen“, verrät mir Margot. „Und ich auch! Das ist ein guter Ort dafür, denn ich bin jetzt schon 50 Jahre verheiratet“, erzählt sie fröhlich. Eins ist klar nach meinem Abstecher nach Blankenberge: Der Besuch dort ist eine lohnende Ergänzung, um die Belle Epoque an der flämischen Küste kennenzulernen. Mit der Küstenstraßenbahn lässt sich diese Tour von De Haan ganz einfach und bequem unternehmen – wie schon in alten Zeiten.