Falten, Bartstoppeln, Tränensäcke oder schiefe Nasen – ist euch schon mal aufgefallen, dass man sowas früher auf Gemälden nicht gefunden hat? Im Gegenteil, da wurde kräftig idealisiert und geschönt. Das änderte sich erst im Spätmittelalter mit Jan van Eyck (um 1390 bis 1441), einem der bedeutendsten Flämischen Meister und Wegbereiter der „Flämischen Primitiven“. Der Begriff, der aus dem 19. Jahrhundert stammt und für eine besondere Künstlergruppe und eine Malerei steht, wird heute kaum noch verwendet. Kein Wunder, verbindet man mit dem Wort „primitiv“ doch alles andere als das, was Künstler wie Jan van Eyck, Hans Memling, Hugo van der Goes und Gerard David damals geschaffen haben.
Schauen wir uns genauer an, was das revolutionär Neue war: Die „altniederländische Malerei“ wie es heute in der Kunstgeschichte heißt, steht nicht nur für fotografisch detaillierte Oberflächendarstellungen, für die schonungslos naturalistische Abbildung von echten Menschen mit all ihren Makeln. Sie steht auch für eine seit der Antike nicht mehr erreichte Naturbeobachtung und -treue sowie äußerst wirkungsvoll eingesetzte Lichteffekte und Farben. Zudem wurden die im Mittelalter üblichen Goldgründe durch realistische Landschaften als Bildhintergrund ersetzt. Es änderte sich aber nicht nur Maltechnik: Plötzlich hatten die Heiligen ihren Platz nicht mehr nur in den Gotteshäusern, sondern auch in den Wohnstuben der Bürger – wenn auch nur der Wohlhabenden. Diese ‘Verbürgerlichung’ und fotorealistische ‘Natürlichkeit’ weisen schon in die Neuzeit und sie begründen die europäische Malerei, wie wir sie heute noch kennen und bewundern. Eine ungemein wichtige Kunstepoche also.
Wer sich intensiv mit ihr beschäftigen möchte, dem kann ich das Groeningemuseum in Brügge nur wärmstens ans Herz legen. In dem in der einstigen Abtei Eekhout gelegenen Museum findet ihr nämlich nicht nur eine abwechslungsreiche und vielschichtige Übersicht der Geschichte der belgischen bildenden Kunst mit Werken aus sechs Jahrhunderten, sondern vor allem den Schatz des Museums: die prachtvolle Sammlung eben jener altniederländischen Malerei.
Einer der bedeutendsten Vertreter war wie schon gesagt Jan van Eyck. Der Künstler, der 1432 als Hofmaler nach Brügge kam und hier seine bekanntesten Gemälde schuf, galt lange Zeit sogar als Erfinder der Ölmalerei. Tatsächlich hat er diese Technik aber nur perfektioniert und in einer Mischtechnik ausgeführt, bei der er die traditionelle Temperamalerei durch Elemente der Öltechnik ergänzte. Dadurch entstand die schon erwähnte bis dahin unbekannte Farbbrillanz. Es gelang dem Flamen außerdem scheinbar mühelos, Umgebungen naturnah und perspektivisch richtig auf die Leinwand zu bringen. Nicht ohne Grund wird Van Eyck auch heute noch oft als „König unter den Malern“ bezeichnet. Dem erfinderischen Hofmaler folgte eine ganze Reihe weiterer einflussreicher Künstler wie Hans Memling oder Hugo van der Goes, nach Brügge. Sie bewunderten Van Eycks Technik und Perfektion, griffen diese auf und entwickelten sie weiter. So entstanden auch völlig neue Kunstgattungen: die Porträt-, Landschafts- und Genremalerei. Viele dieser Gemälde sind heute erstaunlich gut erhalten und zeugen in ihrer Farbenpracht von herausragender Handwerkskunst.
Das Groeningemuseum in Brügge ist jedenfalls die Adresse für altniederländische Malerei. Hier findet ihr eine außergewöhnliche Kollektion der größten Meister am Orte ihres Wirkens versammelt. Hier könnt ihr etwa Van Eycks „Madonna des Kanonikus van der Paele“ oder Hans Memlings Moreel-Triptychon, das Urteil des Kambyses von Gerard David und das Triptychon „Das Jüngste Gericht“ aus der Werkstatt von Hieronymus Bosch mit eigenen Augen bestaunen. Und spätestens wenn ihr vor den farbenprächtigen Originalen steht, begreift ihr, warum diese Meister schon zu Lebzeiten so verehrt wurden.
Zwei bis drei Stunden Zeit solltet ihr für den Besuch in dem relativ kleinen aber feinen und so außerordentlich gut bestückten Groeningemuseum im historischen Zentrum von Brügge schon einplanen – ein kurzer Blick auf die Werke aus den späteren fünf Jahrhunderten flämischer Malerei bis in die Gegenwart inklusive. Denn auch die neoklassizistischen Prachtexemplare aus dem 18. und 19. Jahrhundert, die Meisterwerke der flämischen Expressionisten und natürlich die moderne Kunst aus der Nachkriegszeit sind sehenswert.